Im Schatten zweier Krisen

12.03.2012
von Bernd Posselt MdEP

Im Schatten zweier Krisen beweist Europa derzeit erneut, daß die EU als Gemeinschaft von 27 Mitgliedstaaten auf keinem Gebiet mittels intergouvernementaler Zusammenarbeit funktionieren kann. Ähnliches hatten 2009 schon die Erschütterungen von Wirtschaft und Währung an den Tag gebracht, ohne daß Europas Kleinstaaten, zu denen im Weltmaßstab auch Deutschland, Frankreich und Großbritannien zählen, daraus die richtigen Konsequenzen gezogen hätten.

Während die europäische Einigung beim Binnenmarkt, beim Verbraucherschutz oder beim Aufbau der inneren Sicherheit Fortschritte macht, weil hier die Gemeinschaftsinstitutionen Europaparlament, Rat und Kommission maßgeblich sind und nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden, mangelt es auf anderen, viel wichtigeren Gebieten an Handlungsfähigkeit und Durchschlagskraft.

Schmerzlich wird dies derzeit in der Außenpolitik sichtbar. Die europäische Integration hat auf großartige Weise seit Jahrzehnten den Frieden nach Innen gesichert und ihn durch die EU-Osterweiterung auf fast den ganzen Kontinent ausgedehnt. Doch für eine Stabilisierung des Mittelmeerraumes und der nordafrikanischen Gegenküste Europas fehlen sowohl Strategien als auch Instrumente.

Besonders kraß zeigte sich dies am Fall Libyen. Anders als die Interventionen in Afghanistan und im Irak wäre ein klug geplanter Libyen-Einsatz militärisch berechenbar, politisch-strategisch beherrschbar und sachlich notwendig gewesen. Er kann immer noch gelingen, doch bot sich beim Blick auf Europa potentiellen künftigen Agressoren ein katastrophales Bild. Wie zum letzten Mal vor 20 Jahren beim Zerfall Jugoslawiens entstand der europapolitische Supergau, nämlich, daß ausgerechnet Deutschland und Frankreich von allen Mitgliedsländern in ihren Positionen am weitesten voneinander entfernt sind. Schuld daran gibt es auf beiden Seiten des Rheines, doch die Rolle Berlins ist besonders peinlich und gefährlich. Die außenpolitisch sonst so versierte Bundeskanzlerin muß unverzüglich versuchen, die Sonderwege, die die verschiedenen europäischen Staaten, einschließlich des eigenen, in der Libyenkrise eingeschlagen haben, durch aktive Integrationspolitik zu beenden.

Wegen der geostrategischen Bedeutung des Mittelmeeres, das Churchill den "weichen Unterleib Europas" nannte, dürfen sich die Europäer nicht länger von kleinkariertem Hickhack zwischen den nationalen Regierungen, amerikanischer Zurückhaltung oder türkischer Blockade lähmen lassen und schon gar nicht von innenpolitischen Gesichtspunkten. Jetzt ist der Moment gekommen, um aus verhängnisvollen Fehlern zu lernen, die Außenminister Guido Westerwelle in den letzten Wochen machte. Die Enthaltung im Weltsicherheitsrat isolierte Deutschland in Europa und ließ es ins Lager von Rußland und China, also in die Gesellschaft politisch wirklich unappettitlicher Regime schlittern.
Unsinn ist die Schutzbehauptung des Außenministers, er habe keine Soldaten nach Libyen schicken wollen. Zum einen haben auch andere Staaten für die Resolution gestimmt, ohne sich militärisch zu beteiligen; zum anderen kann ein Außenminister ohnehin keine Truppen irgendwohin entsenden, sondern nur der Deutsche Bundestag. Zum dritten steht ein Einsatz von Bodentruppen in Libyen überhaupt nicht auf der Tagesordnung, sondern die Durchsetzung des Waffenembargos auf den See- und Landwegen um Libyen herum sowie die Sicherung einer Flugverbotszone aus der Luft. Libyen ist ein dünn besiedeltes Land, wo die große Mehrheit der Stämme sich von Gaddafi losgesagt hat und Schutz vor Kampfflugzeugen des Diktators brauchte, damit dessen mit Ölgeldern weltweit zusammengekaufte Fremdenlegionen nicht das libysche Volk massakrieren.

Viel zwingender als ein später Schulterschluß in der aktuellen Krise ist aber die Notwendigkeit, langfristige Konsequenzen zu ziehen. Schon Franz Josef Strauß kritisierte die zentrale Schwäche der NATO: In diesem Bündnis können die Amerikaner entweder mit oder ohne Europäer handeln, nicht aber letztere, wenn einmal nötig, ohne die USA. Dies liegt nicht an Washington, sondern an der Tatsache, daß es ein vereintes Europa außenpolitisch nach wie vor kaum und verteidigungspolitisch so gut wie gar nicht gibt. Berlin und Paris könnten die jüngste Scharte gemeinsam mit möglichst vielen Verbündeten unter den anderen EU-Mitgliedstaaten dadurch auswetzen, daß sie endlich die Initiative zur Schaffung einer für Friedenssicherungen einsatzfähigen europäischen Armee ergreifen, die vom Europäischen Parlament kontrolliert werden muß. Schwerpunkt der nationalen Streitkräfte, die daneben bestehen bleiben sollten, wäre die Erhaltung eines möglichst flächendeckenden Heimatschutzes, weshalb die Bundeswehrreform zu keinem Kahlschlag dieser bewährten Struktur führen darf. Auch ein Blick nach Japan zeigt, wie dringend in solchen Situationen heimische Streitkräfte gebraucht werden.

Darüber hinaus wird deutlich, daß auch in der Energiepolitik die intergouvernementale Methode an ihre Grenzen stößt. Was nutzt es, mit guten Gründen viele Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten, wenn ringsherum in Grenznähe relativ unsichere am Netz bleiben und zahlreiche neue gebaut werden? EU-Energiekommissar Günther Oettinger geht mit seiner Forderung nach einem Streßtest für alle Atommeiler in der EU, nach einheitlichen Sicherheitsstandards und nach einem massiven Ausbau alternativer und erneuerbarer Energien in die richtige Richtung. Ebenso wie bei der Außen- und Verteidigungspolitik darf im Energiebereich der Ruf nach einer schrittweisen Vergemeinschaftung in Europa nicht mehr verstummen.