Wissen, Idee und Identität

29.08.2020
von Prof. Pavo Barišić

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges, 1937, veranstaltete der Gründer der Paneuroupa-Bewegung, Richard Coudenhove-Kalergi, in Wien eine Konferenz über Kultur und Bildung als Grundlagen einer Einigung Europas. Die Ergebnisse faßte er in einer Themennummer der Zeitschrift „Paneuropa“ zusammen. Pavo Barišić, ehemaliger Minister für Wissenschaft und Bildung der Republik Kroatien, Dekan der Fakultät für Kroatische Studien der Universität Zagreb und Internationaler Generalsekretär der Paneuropa-Union, knüpft in seinem Essay daran an.
Prof. Pavo Barišic, internationaler Generalsekretär der Paneuropa-Union.
Prof. Pavo Barišic, internationaler Generalsekretär der Paneuropa-Union. © Zwinge

Ü ber die Zukunft Europas nachzusinnen und sich miteinander zu beraten, ist eine nicht ganz einfache Aufgabe, vor der die europäischen Bürger zurzeit wieder stehen. Wünsche und Träume sind von der Wirklichkeit schwer abzutrennen. Sie bringen in den Menschen die Unruhe, von der sie ihn zu entlasten suchen. Daher haben sich einige Philosophen mit der Einsicht getröstet, daß die Zukunft „uns nichts angeht“. So hat Hegel gerade in Epikurs Überlegungen zum Tod den richtigen Gedanken über die Zukunft erkannt. Er hat ihn folgendermaßen zur Erklärung gebracht: „Das Zukünftige überhaupt aber ist weder unser noch auch nicht unser; auf daß wir nicht es erwarten als ein solches, das sein wird, noch auch daran verzweifeln, als ob es nicht sein werde.“
Dennoch sind wir uns bewußt, daß die Zukunft uns sehr tief angeht. Nie sind wir dem gegenüber, was aus der Zukunft auf uns zukommt, völlig gleichgültig. Unabhängig von allen unseren rationellen Ernüchterungen spornt uns daher vieles an, Zukünftiges gründlich zu überlegen. Immer wieder von neuem versuchen wir, auf die Zukunft zu wirken und sie gemäß unseren Wünschen und Idealen zu gestalten.
Der Bereich des menschlichen Handelns, der sich am meisten und unmittelbar mit der Gestaltung des Zukünftigen befaßt, ist die Bildung. Kultur und Bildung eröffnen das Wirkungsfeld, auf dem sich die Schöpfungen der Vergangenheit mit dem Horizont der Zukunft verschmelzen. Durch Bildung finden die Kulturgüter ihren Weg aus der Vergangenheit in die Zukunft.
Im Jahre 2022, wenn die älteste Bewegung zur Einigung Europas, die Paneuropa-Union, ihr 100. Jubiläum feiert, findet die EU-Konferenz zur Zukunft Europas ihren Abschluß. Dieses Zusammentreffen ist bemerkenswert, und der zweijährige Zyklus der vorbereitenden Debatten über die Zukunft bietet die Gelegenheit, das Vergangene und das Erreichte vor Augen führen. Dabei wird man die einzigartige Rolle der Paneuropa-Union im Laufe des europäischen Integrationsprozesses herausfinden und anerkennen können. Vor hundert Jahren hat der Gründer Richard Coudenhove-Kalergi manche Errungenschaften hellsichtig angekündigt. Allerdings sind auch noch etliche von seinen wegweisenden Ideen für die zeitgenössische Zukunfts-Debatte höchst aktuell und überlegungswürdig.
Im Folgenden werde ich aufgrund der paneuropäischen Ideen über die Bildungs- und Kulturpolitik meine Überlegungen auseinandersetzen. Es handelt sich vor allem um die Frage der Stärkung und Verbreitung von Wissen, das die europäische Idee und europäische Identität fördert. Als Hauptquelle werden die Ideenansätze der ersten Paneuropa-Schulkonferenz, die im November 1937 in Wien stattfand, in Angriff genommen werden.

Humanistischer Bildungsansatz

Der hervorstechende Wesenszug der europäischen Bildungspolitik ist ihr humanistischer Ansatz und ihr optimistisches Vertrauen auf die Fähigkeit der Menschen, sich dem Ideal des vollendeten Menschentums anzunähern. Die Bildung ist ursprünglich auf die Entfaltung und Vollendung des voll- und selbständigen Menschen als Ebenbild Gottes ausgerichtet. Es handelt sich um einen lebenslangen Prozeß der Formung und Kultivierung der ganzen Persönlichkeit. Im Licht der europäischen Erziehungstradition von den antiken Paideia- und Humanitas-Begriffen bis zu Humboldts humanistischem Bildungsideal schrieb der Paneuropa-Gründer über die Bildung des „totalen Menschen“. Er berief sich dabei auf die humanistische Tradition des Lernens und der Selbstzucht als Weg der persönlichen und kulturellen Ausbildung und Veredelung des Charakters.
In dieser Perspektive eines ganzheitlichen Menschenbildes sollte die Bildung in der Zukunft weiter die Präferenzen und angeborenen Fähigkeiten jedes Einzelnen berücksichtigen. Sie steht im Dienst des echten Humanismus. Da ihr letztes Ziel – die Kultivierung jedes einzelnen Menschen – in ihr selbst liegt, ist sie frei von jeglichen äußeren Zwecken.
Soweit die Bildung das Wissen mit allen Einstellungen, Fähigkeiten und Erfahrungen auf viele Menschen überträgt, könnte sie auch für den Arbeitsmarkt oder die Verwaltung allgemeiner Angelegenheiten nützlich sein. In diesem Sinne kann sie Vorteile für die Gesellschaft bieten. Die Entfaltung des Humanen im Menschen ist der letztendliche Zweck jeder Bildung. Dieser Gedanke liegt nicht zuletzt dem christlichen Humanismus zugrunde, der genuin europäisch und zu einem weltweiten Maßstab geworden ist.
Trotz der großen Herausforderungen, die die digitale Technologie mit sich bringt, bleibt das Hauptthema der Erziehung der Mensch. Es ist zu vermuten, daß in naher Zukunft mehr Arbeitsplätze entstehen werden, für die ein gewisses Maß an digitalen Fähigkeiten erforderlich ist. Aus diesem Grund benötigen die Menschen ohnehin grundlegende wissenschaftliche Kenntnisse und Kommunikationskompetenzen, um digitale Innovationen zu erlernen.
Von der humanistischen Bildung werden vor allem grundlegende Fähigkeiten der Reflexion und Selbstreflexion gefordert. In den gegenwärtigen pädagogischen Entwürfen ist unter anderem das sogenannte Modell „4 C“ populär geworden: Im Vordergrund stehen die Kompetenzen für Kreativität, Kritisches Denken, Kommunikation und Zusammenarbeit (Creativity, Critical thinking, Collaboration, Communication). Diese Kompetenzen sind aber nur das Ergebnis von Ausbildung. Die Bildung ist die Grundlage. Aus der genuinen europäischen Bildungsphilosophie kann geschlossen werden, daß man auf die Integrität und Sinnhaftigkeit des gesamten Bildungsprozesses achten sollte, um nicht im Wald unterschiedlicher fachlicher Kompetenzen verloren zu gehen.
Ein zu starker Fokus auf ständig wechselnde Lernergebnisse und enge Kompetenzen könnte dazu führen, daß daraus die Gefahr einer Halbbildung oder Unbildung hervorgeht. Eine echte Bildung erfordert eine solide humanistische und wissenschaftliche Basis, um kritisches Denken, reflektierte Einstellungen und positive Werte zu entwickeln.
Digitale Technologie kann in den Dienst der Menschheit gestellt werden. Aber der Mensch sollte kein Instrument irgendeiner Technologie oder Ideologie sein. Ein vollständiger, humanistisch gebildeter Mensch, der ein gerechter Träger der liberalen Volksherrschaft wäre, ist das höchste Ziel der echten europäischen Bildungspolitik.

Bildung für Demokratie

Demokratie entfaltet sich aus der kritischen Gesinnungsfähigkeit der Bürger. Ohne kultivierte, autonome Bürger, die kompetent über gemeinsame Angelegenheiten beraten können, sind die Gesellschaften in hohem Maße gefährdet. Halbgebildete Personen „fallen den absurden und wissenschaftlich unhaltbaren Theorien zum Opfer“. Unser digitales Zeitalter ist nicht immun gegen Ideologien. Diese Gefahren offenbaren sich in den sich immer wieder erneuernden Tendenzen zu gewalttätigen Extremismen, zur aufkommenden Demagogie und zu einer allgegenwärtigen und durch neue Medien immer stärkeren Bedrohung der Verdrehung von Wahrheit und Verbreitung von Fake News.
Die Gefahren des Niedergangs der Bildung trotz eines allgemeinen technischen Fortschritts hat Coudenhove-Kalergi klar gesehen. Daher versuchte er in seinen Schriften, den authentischen europäischen Bildungsweg zu bekräftigen. Er plädierte dafür, daß die „große Linie der europäischen Kultur“ fortgesetzt werde. Diese Fortsetzung ist vor allem durch Bildung und den Aufstieg von Talenten gewährleistet. Dabei forderte er vor allem, daß „echte Bildung anstelle von Halbschulbildung gefördert“ werde. Diese echte Bildung ist ebenso auf die geistige wie auch auf die emotionale und sittliche Seite des Menschen ausgerichtet. Sie ist die Bildung der Vernunft wie auch des Herzens, der ganzen Persönlichkeit.

Echte Bildung statt Halbbildung

Die europäische Bildungspolitik und wissenschaftliche Zusammenarbeit hat sich während der vergangenen drei Jahrzehnte in mancher Hinsicht wesentlich entwickelt. Insbesondere wurden durch den Bologna-Prozeß der Austausch im Rahmen der Hochschulbildung und die Harmonisierung der Studiengänge ausgebaut. Unter anderen haben Erasmus, CEEPUS und andere Hochschulprogramme die Zusammenarbeit der europäischen Universitäten und den Austausch von Studenten gefördert. Dadurch haben diese bildungspolitischen Kooperationsprogramme zur Festigung der europäischen Gesinnung und Identität positiv beigetragen.  
Aber in einigen Lehrgebieten gibt es noch viel zu fördern und zu stärken. Vor allem im Bereich der gemeinsamen europäischen Lehrinhalte in den Grund- und Mittelschulen könnten bessere Ergebnisse erreicht werden. Seit zwei Jahrzehnten ist auch in Europa immer mehr von „Curricula“ anstatt von Lehrplänen und Lehrprogrammen die Rede. Es geht um einen Einfluß aus Amerika, der sich mehr oder weniger auf die meisten europäischen Staaten ausgebreitet hat. Die Bildungspolitik in der Europäischen Union liegt in der Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten. Dennoch ist es förderlich, die gemeinsamen europäischen geistigen Grundlagen im Bildungswesen zu pflegen.

Europäische Gesinnung

Die öffentliche Meinung wird einerseits von der Schule und andererseits von der Presse gestaltet. Dazu bemerkte Coudenhove, daß die Presse sich mehr auf die öffentliche Meinung in der Gegenwart auswirkt, während die Schule auf die Meinung in der Zukunft einen entscheidenden Einfluß ausübt. Er forderte deswegen im Heft 5/1937 der Zeitschrift „Paneuropa“ über „Europäische Schulfragen“ nachdrücklich „die tatkräftigste Mitarbeit von Presse und Schule“. Die Gegenwart müsse mit der Zukunft ausgeglichen werden.
Die beiden Medien der öffentlichen Meinung und der Demokratie, die Presse wie die Schule, sind also notwendig für die Ausbildung einer europäischen Gesinnung und des Identitätsbewußtseins bei den Bürgern. Die öffentlichen Medien sind in diesem Sinne auch für die Vorbereitung und Durchführung des Unternehmens Paneuropa sehr bedeutend.
Daher forderte der Paneuropa-Vordenker die Einführung des Europa-Gedankens in den Schulunterricht. Es ist allerdings wichtig vor Augen zu haben, daß er dabei ausdrücklich begründete, daß die europäischen Ideen nicht die nationalen und staatlichen verdrängen sollten, sondern ihrer Ergänzung dienten. Er beklagte sich darüber, daß zu jener Zeit die nationale Ideologie in einem übertriebenen Ausmaß die Schulen Europas beherrschte.
Unter diesen Umständen wurde „Europa“ auf einen bloß geographischen Begriff im Unterrichtswesen reduziert. So nahm man die Fülle seiner geschichtlichen und kulturellen Blickwinkel aus dem Schuldiskurs. Auch der politische wie der wirtschaftliche Aspekt des europäischen Zusammenlebens wurde aus den Lehrplänen verdrängt.
In einer allgemeinen Verflachung der Ausbildung und infolge des Aufbruchs der nationalistischen Europa-Ignoranz, ja -feindlichkeit sieht der weitsichtige Paneuropäer einige der Ursachen der kommenden Tragödie in Europa. „Der Durchschnittseuropäer, der die Schule verläßt, weiß fast nichts von der europäischen Kulturgemeinschaft, Schicksalsgemeinschaft, Wirtschaftsverbundenheit. Und doch wäre die Schule der natürliche Boden zur Vorbereitung einer europäischen Gesinnung, die in keiner Weise die nationale Ideologie verdrängen, sondern sie nur ergänzen würde.“ Deshalb sollte europäisches Denken im Unterricht der Geographie, Geschichte und Kultur eingeführt werden.

Europäische Geschichte

Im Geschichtshorizont soll der Europa-Begriff dynamisch, nicht statisch betrachtet werden. Diese Dynamik kann von der hellenischen Kulturwelt, deren Ringen mit Persien der erste Daseinskampf Europas war, bis zur Gegenwart verfolgt werden.
Dabei nahm Coudenhove-Kalergi zuerst die Geschichte der griechischen Uneinigkeit als Vorspiel und Warnung vor der zeitgenössischen europäischen Uneinigkeit. „Wie sich rings um das zerrissene Hellas die persische, makedonische und römische Großmacht gebildet hat, so heute um das zerrissene Europa die Weltmächte Asiens, Russlands und Amerikas … Hier bedarf es keiner Neubearbeitung der Geschichte: die nackte Schilderung der Tragödie Griechenlands ist an sich ein Appell an Europa, sich rechtzeitig zu einigen.“ Aus der Geschichte können also Beispiele zur Belehrung genommen werden – unter dem ciceronischen Motto „historia magistra vitae est“ (Die Geschichte ist Lehrmeisterin des Lebens.).

Mehrsprachigkeit in Europa

Im Gegensatz zur Auffassung, die die moderne Globalisierung mit der Europäisierung verknüpft, setzt sich der Paneuropa-Gründer für die Trennung des Begriffs „europäische Geschichte“ vom Begriff „Weltgeschichte“ ein. Europa hat zur Globalisierung der Welt allerdings wesentlich beigetragen. Aber der Weltgeist ist von Europa weiter in Richtung Westen wie auch Osten geflogen. Europa hat durch den Zusammenprall seiner Staaten im Ersten Weltkrieg seine zentrale Position in der Weltgeschichte verloren. Es kann sich der politischen und wirtschaftlichen Weltbühne durch einen europäischen Bund wieder annähern. Die Globalisierung hat vor fünfhundert Jahren mit der Öffnung Europas und der Suche nach der Neuen Welt begonnen. Inzwischen aber ist sie mit den Prozessen in den neuen Supermächten Amerika und China verbunden. Europa kann durch seine Integration eine Vermittlerrolle auf dem globalen Schachbrett in der Zukunft spielen.
In der Sprache verdichtet sich die wissenschaftliche Schöpfungskraft einer Kultur. Dabei eröffnet sich im Medium der Sprache der Zugang zur Vergangenheit und zur Breite des durch Generationen angesammelten Wissenskorpus. Jede Sprache birgt in sich umfangreiche schöpferische Potenziale der Erkenntnis, und daher liegen in ihr die Öffnungsvoraussetzungen gegenüber dem Zukünftigen.
Alle europäischen Sprachen haben allerdings ihre wesentliche Rolle im grundsätzlichen Streben nach der Einheit in der Vielfalt. Jede Sprache bringt ihr wissenschaftliches und kulturelles Erbe mit. Dabei kommt jedoch den Sprachen mit mehr entwickelter wissenschaftlicher Tradition und der größeren Anzahl von Muttersprachlern eine besondere Aufgabe in der Entwicklung der angemessenen Strategie zu, die Mehrsprachigkeit in der internationalen Wissenschaftskommunikation zu fördern.
Vom Erfolg der europäischen Strategie der Mehrsprachigkeit hängt wesentlich das Schicksal vieler Nationalsprachen nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt ab. Angesichts „einer Kultur der Mißachtung von und Angst vor Mehrsprachigkeit“ sei die Stärkung und Verbreitung der Mehrsprachigkeit im europäischen Schulsystem mit noch anspruchsvolleren Maßnahmen zu begünstigen. Einsatz für Mehrsprachigkeit und Investitionen in Sprachkenntnisse erhöhen einerseits das gegenseitige Verständnis der Bürger und eröffnen den Zugang zu anderen Ländern und Kulturen. Auf der anderen Seite festigen sie die europäische Identität und verhelfen zu allgemeinem wissenschaftlichem Fortschritt wie auch zu kultureller Bildung und Vervollkommnung der Menschen.
Europa hat in seiner Geschichte einen hervorragenden Lebensstil und eine einzigartige Kultur entwickelt. Europäische Bürger dürfen diese Kultur nicht vernachlässigen, sie sollen den Weg zurück zum europäischen Lebensstil finden.
Die europäische Substanz ist am prägendsten in der Kulturgeschichte demonstrierbar. Denn es geht um „das reichste Feld zum Studium europäischer Gemeinschaft“. Die Kulturgeschichte wird als ein gemeinsames europäisches Gewebe betrachtet, zu dem verschiedene nationale Spielarten ihre Beiträge geleistet haben. Und darin ist am meisten die Einheit in der Verschiedenheit ersichtlich.

Europäische Kultur

Jede Kulturgeschichte einer europäischen Nation spiegelt zugleich die Einflüsse der gesamten europäischen Bewegungen. Es kann dasselbe für die Bereiche von Kunst, Literatur, Dichtung oder Drama wie auch für Philosophie oder Wissenschaft angemerkt werden. In jedem einzelnen ist der gemeinsame europäische Geist enthalten. Daher schrieb Coudenhove-Kalergi über den „Begriff der europäischen Kulturgemeinschaft, der ebenso selbstverständlich werden sollte wie heute der nationale Begriff der Sprachgemeinschaft“. Der europäische Einigungsprozeß sollte auf der Grundlage der Kultur aufgebaut werden und sich danach auf die politische und wirtschaftliche Einigung ausbreiten.
Es ist merkwürdig, daß die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg gerade umgekehrt vorgegangen ist. Ausgehend von der Wirtschaft, von einer Allianz in der Stahl- und Kohle-Industrie, über die gemeinsame Politik einiger Staaten Westeuropas, bewegte sich die Einigungsbestrebung zuletzt in Richtung von Kultur und Bildung. Offensichtlich liegen darin einige Erklärungsgründe für die heutigen Verwirrungen in der Zielsetzung des Einigungsvorgangs in Europa. Die Identitätsfragen sind noch nicht ganz geklärt worden.
Wenn sich die Europäische Union, die wieder vor einer Reform steht, auf feste Grundlagen stützen will, muß sie sich darum kümmern, was über ihre Geographie, Geschichte und Kultur in den Schulen gelehrt und an den Universitäten untersucht wird. Aber die Zukunft ist immer offen und mit verschiedenen Aussichten erfüllt. Wie der berühmte demokratische Staatsmann Perikles erklärte – „es kommt nicht darauf an, die Zukunft vorauszusagen, sondern darauf, auf die Zukunft vorbereitet zu sein“.
Um auf etwas vorbereitet zu sein, muß man es zuerst erkennen und wissen. Wenn man es weiß, kann man dieses reflektierte Verhältnis zu seiner Identität, zu anderen und zur Welt auf neue Generationen weitergeben. Europa muß in dieser Richtung des Selbstverständnisses seine Bildungs- und Kulturpolitik weiterentwickeln und behutsam pflegen. Es hat eine großartige Identität und eine staunenswerte Kultur hervorgebracht, die zu erhalten wertvoll ist.
Die Curricula in den Schulen und an den Universitäten sollen so gestaltet und vollendet werden, daß sie die europäische Kultur zu fördern und zu verbreiten vermögen. Lehrer und gute Ratgeber haben die Pflicht, die Kultur im Gedächtnis zu bewahren und weiterzugeben.